Thursday, May 29, 2008

Berlin erneut betrachtet

Es gibt wahrscheinlich nichts, was über Berlin noch nicht gesagt wurde. Es ist alles an mir vorüber gezogen. Ich habe Berlin lange Jahre ignoriert, weil ich den ganzen Hauptstadt-Hype unerträglich fand - so unerträglich wie die Hauptdarsteller der modernen Berliner Republik, angeführt vom an der Spree laufenden Außenminister, der sich selbst den letzten Live Rock’n’ Roller nannte.

Früher, in einer sehr anderen Zeit, in den 90ern, war es für mich das noch marode Berlin der Nachwendejahre, der lustigen Loveparades und natürlich das von Judith Hermann verklärte Berlin, dem sie in Sommerhaus, später ein Denkmal setzte, selbst wenn ich das erst nach Jahrtausendewende verstanden habe. Ehemalige Schulkameraden, Kommilitonen und Ex-Freundinnen zog es nach und nach alle in die neue, aufregende Hauptstadt.


Inzwischen komme ich selbst so oft nach Berlin, wie es geht. Und selbst, wenn es nur für eine Partynacht ist, von der mehr bleibt als von manch bräsigem Wochenendtrip. Es ist enorm, was man noch um 4 Uhr in Bars auf dem Prenzlauer Berg erleben kann, selbst wenn man sich längst für ersten Zug zurück nach Hamburg entschieden hat, weil man dann gehen sollte, wenn es am interesantesten ist – und nicht, wenn der nächste Tag bereits verbraucht ist und seine Schatten geschlagen hat.

5.12 Uhr ist es, das Taxi hat es auf den autoleeren Straßen noch bis zum Hauptbahnhof geschafft, die allerersten Bagel- und/oder Obstsaft-Shops öffnen ihre verglasten Pforten. 1:49 Stunden sind es heute nach Hamburg wegen der Stopps in Spandau und Wittenberge – sonst im Idealfall gar nur 1:33 Stunden.

Ich sitze im menschenleeren ICE, das fast leere iPhone auf dem Schoß, 20 Prozent Batterie noch für das letzte Mia-Album, Zirkus, das - zugegeben – ein bisschen zum verkitschten Abziehbild des Berliner Lebensgefühls verkommen ist. Mir ist das egal, jetzt: Häuser, Bahnsteige und Rapsfelder ziehen vorbei.


Es wird hell, die Morgensonne knallt mir ab Ludwigslust ins Gesicht. Ein neuer Tag. Zu früh. Ich weiß nicht, ob ich hier wirklich leben könnte, denke ich, aber jedes, aber auch wirklich jedes der letzten Male war immer ein Highlight, immer ein Erlebnis, bei dem es eine neue Tür zu entdecken gab, manchmal zurück in die Vergangenheit, manchmal sonst wohin.

Etwa in die Hausbar auf dem Prenzlauer Berg. "Es gibt in Berlin viele Leute, die nur herkommen, um sich ein bisschen gehen zu lassen", sagt die Frau an Bar, die um 3 Uhr plötzlich alleine aufgetaucht ist und im Buch der Geflügelten Worte blättert, als ich mit einem ehemaligen Schulfreund ein bisschen zu laut über Kursraketen am Aktienmarkt, also Kali und Salz (K+S), spreche.
"Es gibt in Berlin viele Leute, die sich einfach mal ein bisschen treiben lassen wollen", ergänzt sie und setzt sich zu uns.
"Naja", werfe ich ein, "wer will das nicht?"
Sie grinst. Was ich genau darauf erwidern könnte, fällt mir nicht ein. In einer halben Stunde geht der Zug.


Am Ende der Fahrt bleibt folgender Gedanke hängen: Man hat das Gefühl, es gibt in Berlin viele Suchende. Jeder ist nach irgendwas auf der Suche, und oft genug hat das mit einem selbst zu tun – mit einem Traum, einem Ideal oder wenigstens einer bestimmten Vorstellung vom Leben. Das ist, auf eine bestimmte Art, ziemlich sympathisch – und das exakte Gegenteil von München, wo jeder vorgibt, schon kurz nach der Kommunion alles gefunden zu haben, um dann doch bei der ersten sich bietenden Gelegenheit fremde Betten zu durchforsten – doch das ist ein anderes Thema.

Judith Hermann, die für mich noch immer mehr als jede andere Schriftstellerin der Gegenwart Berlin repräsentiert, obwohl in ihrer zweiten, noch viel besseren Veröffentlichung Nichts als Gespenster nicht eine Erzählung tatsächlich in Berlin spielt, und sie auch seit mehr als fünf Jahren überhaupt nichts mehr veröffentlicht hat, weil sie Mutter geworden ist, hat über die Stadt alles gesagt, selbst wenn sie über andere Städte schreibt:

"Vor der Geburt meines Sohnes habe ich immer geglaubt, dass in der Ferne etwas passieren wird, das mein ganzes Leben aus den Angeln hebt. Irgendjemand wird da stehen, der mir alles abnehmen wird". Genau das ist es, was die Neon-Generation nach Berlin treibt – und was das Faszinosum Berlin für den Rest der Republik ausmacht.

"Danach", sagt Judith Hermann über die fantastische Verfilmung von Nichts als Gespenster, "hatte ich auch weiche Knie und ein bisschen Sehnsucht nach meinem eigenen Leben. Nach einer bestimmten Zeit, die jetzt vorbei ist."

In Berlin, so scheint es, ist das nie vorbei. Und wenn es vorbei ist, könnte vielleicht immer noch Hamburg bleiben. Das wäre "die Melancholie der Ankunft, wenn man begreift, dass eine Zeit des Suchens im Leben zu Ende ist".

Vorhaben für diesen Sommer: Mehr Hauptstadt testen. Ein bisschen zumindest.

Alle Fotos: © Nils Jacobsen

1 comment:

Unknown said...

schöner Text, treffend geschrieben und klasse Einleitung ;)